Säuglingslager „ein Massenexperiment allergrößten Stiles“?
In: Frewer, Andreas / Siedbürger, Günther (Hg.): Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von „Ausländern“ im Gesundheitswesen, Frankfurt am Main / New York 2004 (Campus-Verlag)
Einleitung:
Abgestempelt als „fremdvölkisch, „schlechtrassisch“, „den Arbeitseinsatz behindernd“ starben die Kinder polnischer und sowjetischer Zwangsarbeiterinnen in Baracken, Schuppen und Ställen. Für diese „Sammelstätten“ hatte Himmler die „hochtrabende“ Bezeichnung „Ausländerkinder-Pflegestätten“ gewählt. Zwischen 1943 und 1945 wurden allein in der Region Braunschweig mindestens 800 Säuglinge, meist nur wenige Wochen alt, um ihr Leben gebracht. Erlasse des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und des Reichsinnenministeriums regelten mit vagen Formulierungen ihr kurzes Leben.
Dr. Thilo Brehme, Chefarzt der Kinderheilanstalt Braunschweig, betonte nach dem Krieg: „Bei dem Erlass dieser Verfügungen, die vermutlich ohne Mitwirkung eines Arztes, sicher aber keines Kinderarztes, erfolgt sind, hat man wahrscheinlich die Folgen der Zusammenpferchung vieler, von den Müttern getrennter, nicht gestillter und von unerfahrenen Pflegekräften betreuter junger Säuglinge bzw. Neugeborener nicht in Betracht gezogen. Ja, durch diese Verfügungen wurde das Massenexperiment eines Hospitalismus größten Stiles geradezu angeordnet!“
Dass die Kinder „durch diese Verfügungen“ sterben mussten, ist heute unumstritten. Wenn in den letzten Jahren ein bis dato unbekanntes Säuglingslager beschrieben wurde, hatten sich allenfalls noch Todeszahlen ermitteln und ein paar Zeugnisse über die Einrichtung der „Ausländerkinderpflegestätten“ und ihre erbärmliche Ausstattung finden lassen. Der Mitverantwortung von Medizinern an dem Tod zehntausender Säuglinge kann vielerorts nicht mehr nachgegangen werden; sie ist deshalb als Fragestellung aus dem Blick geraten.
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